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Digitalisierung: Brauchen wir ein „Grundrecht auf eine analoge Existenz“?

Im Spiegel wurde Anfang September 2022 ein „Debattenbeitrag“ von Alexander Grau veröffentlicht mit dem Titel „Wir brauchen das Grundrecht auf eine “, der eine Abkehr von der allgegenwärtigen fordert. Der Text beginnt mit folgenden Sätzen:

Die Digitalisierung ist längst keine Technologie mehr, sondern eine Ideologie. Sie raubt uns die Freiheit. Wenn die Demokratie überleben soll, muss der Staat jetzt tun, wofür er geschaffen wurde.

Digitalisierung als Demokratiekiller? (Screenshot von Spigel.de).

Es geht weiter mit einer Beschreibung, wie mit „andächtigem Staunen und kindlichem Entzücken“ neue Smartphone-Generationen bejubelt werden würden, „hingebungsvoll“ werde den „Zukunftsvisionen vom autonomen Fahren, von neuen Arbeitsformen, revolutionierten Bildungswelten oder dem Internet der Dinge“ gelauscht. Kritische Töne von Datenschützern und Entwicklungspsychologen gingen unter „in dem kollektiven Begeisterungs­taumel und in den ökonomischen und sozialen Versprechungen, die uns von den Auguren der IT-­Industrie eingeflüstert werden.“

Den Rest des Artikels empfehle ich zum Selbstlesen. Aber ich verrate nicht zu viel, dass damit der Ton gesetzt ist und er im Ruf nach dem Staat gipfelt, der ein „Grundrecht auf ein analoges Leben“ garantieren soll. Ich finde folgenden Satz besonders schön:

Es ist schon aus demokratietheoretischen Gründen nicht hinzunehmen, Menschen auf die Anwendung einer Technologie zwingend zu verpflichten, die noch Kinder sind oder nicht einmal geboren. Jeder muss das Recht haben, digitale Techniken aus seinem Leben fernzuhalten und dennoch am Gesundheitssystem, am Konsum oder am öffentlichen und politischen Leben vollwertig teilzuhaben.

Das ist aus meiner Sicht vergleichbar mit dem Ruf nach einem „Grundrecht auf Analphabetismus.“ Wer nicht lesen und schreiben kann, ist von großen Teilen unseres täglichen Lebens ausgeschlossen. Tatsächlich gab es schon um 1450, als Gutenbergs Erfindung des Buchdrucks mit beweglichen Lettern den Zugang zu Büchern und Schriften demokratisierte, große Aufregung und Diskussionen darüber, wie der Zugang zu Informationen die Menschen verändere – aus Sicht der damals Herrschenden in Staat und Kirche natürlich zum Negativen.

Natürlich gibt es in der Digitalisierung eine Menge Fehlentwicklungen, Übertreibungen und irre Visionen – aber soll man die Schrift verbieten, weil sie unter anderem auch Groschenromane, die Pamphlete der RAF oder die Selbstdarstellung irrer Massenmörder ermöglicht? Ausnahmslos jede Technologie hat gute und schlechte Seiten, auch die Digitalisierung.

Digitale Technologien sind heute ebenso selbstverständlicher Teil unseres Lebens wie die Schrift. Sie zu vermeiden oder zurückzudrängen bedeutet, wesentliche Bestandteile unseres Alltags abzulehnen. Und wenn die Digitalisierung – wie der Artikel suggeriert – tatsächlich eine Gefahr für Demokratie und Persönlichkeit ist, sollte man umso mehr daran arbeiten, diese negativen Begleiterscheinungen zu vermeiden, anstatt den „bösen Kräften“ das Feld zu überlassen und sich aus der digitalen Welt zurückzuziehen.

Es ist mir unvorstellbar, wie eine so komplexe Welt, wie wir sie geschaffen haben, ohne Digitalisierung funktionieren soll. Allein die gigantischen Fortschritte in der Medizin wären ohne digitale Technologien nicht denkbar. Gleichzeitig zeigt der Medizinsektor mit dem unendlichen Drama der digitalen Gesundheitskarte, wie schlecht es um die Digitalisierung in Deutschland bestellt ist. Ich muss immer noch zum Arzt fahren, um ein Papierrezept abzuholen, das ich dann wiederum bei der Apotheke vorlegen muss – und das auch bei Dauerverschreibungen, bei denen der Arzt keine Diagnose stellen muss. Patientenakten, Röntgenbilder und andere Unterlagen werden in Briefumschlägen weitergegeben oder liegen nicht vor.

Das Krankenhaus hat keinerlei Informationen über die Krankengeschichte eines Patienten, wenn dieser beispielsweise als Notfall eingeliefert wird. So werden Untersuchungen doppelt gemacht, falsche Behandlungen wahrscheinlicher und die medizinische Versorgung insgesamt teurer und schlechter als sie sein könnte. Inkompetenz auf allen Ebenen, Kompetenzgerangel und falsch verstandener Datenschutz verhindern eine sinnvolle, digitalisierte Medizin. Und nun sollen also auch noch „analoge“ Patienten in diesem System mitgeschleppt werden? Was soll das?

Digitalisierung wird auf viel zu vielen Ebenen – von der Politik über die Verwaltung bis zu Bildung und Unternehmen – nicht ernst genug genommen. So ziehen nicht nur andere Länder und Weltgegenden an uns vorbei, sondern wir sind den negativen Auswirkungen der Digitalisierung auch schutzlos ausgeliefert. Wir haben mit Klimakrise, Krieg, Inflation, Fachkräftemangel, negativen Wirtschaftsaussichten und nicht zuletzt einer auf allen Ebenen festzustellen Technikskepsis zu viele Probleme am Hals, um auch noch die unausgegorenen Befindlichkeiten lebensfremder Philosophen berücksichtigen zu können. Wer sich von der Digitalisierung überfordert fühlt, sollte vielleicht eher seine Verweigerungshaltung überdenken und sich besser informieren – Angst entsteht durch Unkenntnis.

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